Tartini, ach Tartini, alter Meister, gut dass du das nicht mehr erleben mußt.
Ich, Guiseppe (ja, ebenfalls Guiseppe) Fekonja, dein allergrößter Bewunderer, wie habe ich dir nachgeeifert. Wieviel Stunden habe ich geübt, wieviel Blut floß auf die gespannten Saiten und den Corpus meiner Violine, die alles und nichts bedeutet, aus meinen Händen. Wieviel Schweiß und Tränen, nicht nur von mir. Von all denen, denen ich irgendwann einmal etwas bedeutet habe und die ich im Stich ließ. Um besser und besser zu werden. Irgendwann einmal so gut, zumindest annähernd, wie du. Als meine Schwester starb, war ich in Oslo und spielte Giuseppe Torelli (noch ein Guiseppe) und natürlich deine Teufelstrillersonate. Bejubelt, in der ersten Reihe weinte der Premierminister. Ich war voller Glück weil ich dir damit ein wenig näher sein konnte. Und als meine Finger zum letzten Mal gefühlvoll die Saiten für den Schlußakkord strichen, tat meine Schwester ihren letzten Atemzug. Unbeachtet in ihrer Sozialwohnung am Rande von Ljubljana. Der Pflegedienst fand sie erst nach dem Wochenende. Und obwohl ich wußte, dass sie mich in ihrem Endstadium brauchte, spielte ich in Oslo. Besessen, aufgewühlt, den Fokus nur auf dich und deine Genialität gerichtet. Als meine Tochter heiratete war ich auf Tournee durch Europa. Als ihr Sohn geboren wurde, war ich in Mailand, als er viel zu früh starb, in Genua. Als sie sich scheiden ließ, trat ich in Kanada auf und als sie sich das Leben nahm… weiß ich nicht mal mehr wo ich war. Ich kann die Schicksale einfach nicht miteinander verknüpfen, weil die Wichtigkeit auf der Musik lag, die mich antrieb und nicht auf dem Leben, dem kleinen ungelebten glanzlosen Leben anderer. Doch auch mein Glanz ist verblasst, die Hände gichtgeplagt, vom vielen Spielen deformiert. Die großen Engagements bleiben schon lange aus. Und so spiele ich. In Piran, deiner und meiner Heimatstadt. Es ist das Ende des Sommers, auch eine Metapher, aber es ist wirklich Ende August. Noch pulsiert das Leben in den engen Gassen, doch die Ströme der Touristen verebben. Und damit mein letzter Auftritt für dieses Jahr. Auf dem Tartiniplatz, dir gewidmet, sind die vielen Stühle aufgebaut. Auf dem etwas erhöhten Podest, wartet meine untalentierte und unwillige Begleitband auf ihren Einsatz. Sie sitzen auf den billigen weißen Plastikstühlen. Die so unbequem sind, dass die Konzentration schnell nachläßt, sofern sie vorhanden war. Andreja an der Cajon , wird zum hundertsten Mal an der gleichen Stelle ihren Einsatz verfehlen. Das Publikum, jedes Publikum vor dem wir die letzten Jahre aufgetreten sind, wird es nicht bemerken. Ich bin mir auch nach vielem Überlegen nicht sicher, ob ich sie noch mit auftreten lasse, weil es einfach egal ist, dass sie schlecht spielt oder das sie die Einzige ist, die mit mir noch das Bett teilen will. Wenn sie genügend getrunken hat. Und niemand anderen gefunden hat. Ja, der Glanz ist verblasst. Schon seit einigen Stunden sitze ich in dem dunklen Durchgang der den Tartiniplatz mit dem kleinen Markt verbindet. Selbst in den hellsten und heißesten Stunden fällt hier kein Sonnenstrahl ein. Das sieht man den auf den Stühlen Sitzenden an. Das wenige Tageslicht, das wenige Bedürfnis nach einem Gespräch mit dem Nachbar, das über das Fischen und Fußball hinaus geht. Das viele Trinken schon zur Mittagszeit. Die Fischerei ist schon lange keine lukrative Einnahmequelle mehr, seitdem die chinesischen Megatrawler die Fischrechte aufgekauft haben. Und wer nicht rechtzeitig ein Touristenlokal mit chinesisch gefangenem Fisch aufgemacht hat, sitzt jetzt in einem solchen und vertrinkt sein weniges Geld und seine wenige Hoffnung bei seinen Nachbarn und ehemaligen Freunden.
Später Nachmittag also. Noch ist Zeit genug, bis ich mich in mein albernes Fantasiekostüm mit den vielen Pailletten und Kordeln, die sinnlos vor meiner schwindsüchtigen Brust baumeln, zwängen muß.
Blaue samtige Hose, der Blazer in nachtgrau. Die Kordeln goldglänzend. Noch trage ich meine abgewetzte Jeans mit dem falsch zugeknöpftem Hemd. Und bestelle bei Žan ein weiteres Union. Während ich warte bis er wie immer sehr behäbig mein Bier bringt und dabei den ersten Schluck verkleckert, mustere ich den Durchgang zum tausendsten Mal. Hier hängt der Putz noch in großen Schollen von der Wand, kapitulierte vor dem Seewasser der Adria. Die Leitungen und Kabel hängen wirr und lose und scheinbar ohne System an den Wänden und der Durchgangsdecke. Viele provisorisch geflickt, viele nutzlos geworden, viele einfach so. Obwohl es wie immer im August noch einmal unerträglich heiß in Piran wird, blüht wie durch ein Wunder auf einem Fensterbrett an den schmalen hohen Fenstern ein einsamer Ginster. Offenbar wird das Pflänzchen geliebt. Das kann man sicherlich nicht von allen in diesem Durchgang sagen. Durch das ewige Dämmerlicht scheint eine auch bei Tag trübe brennende alte Straßenlaterne, die viel zu groß in dieser schmalen Gasse erscheint und deren Gläser längst zerbrochen oder angelaufen sind. Ich reibe mir die Augen, denn gerade laufen zwei alte Männer an mir vorbei. Nur mit einer Badehose bekleidet, runzlig braun sind ihre verwelkten Körper, einer trägt eine rosa Flamingoluftmatratze unter dem Arm, sie sind auf dem Weg zum Betonstrand an der Mole. Niemand stört sich an diesem Anblick. Die Stadt und ihre Geschichte ist so eng verbunden mit dem Meer, das man hier noch nie unterschieden hat zwischen Hosen zum Baden und Hosen zum Ausgehen. Das alte Seeräubernest hat sich trotz der Touristenströme seinen anarchischen eigenständigen Charme bewahrt. Früher lockte man italienische Seefahrer mit falschen Leuchtfeuern auf die Klippen, heute lockt man die ganze Welt in zu teure Restaurants und an die Buden mit den falschen Muschelketten und Keramikfischlein. Mein Bier ist zu Ende, ebenso wie meine Überlegungen. Bald muß ich mich der Meute stellen, ich bestelle einen doppelten Espresso und ein kaltes Wasser um wieder etwas klar zu werden. Wie konnte es soweit kommen (dazu wahrscheinlich später mehr), wo habe ich die falsche Abzweigung in meinem Leben genommen. Warum steige ich gleich in meinen Anzug der für diese Zeit viel zu heiß ist und spiele auf dem von langen Sommertagen aufgeheizten Tartiniplatz, anstatt in den großen Häusern? Wo ist der Unterschied zwischen Paganini, dem Teufelsgeiger, und mir? Warum spiele ich in Piran und nicht in Wien? Warum… Warum? Es hat keinen Sinn darüber nachzudenken. Heute nicht und gestern auch nicht. Das Leben ist jetzt, und von mir fordert es in einem lächerlichen Kostüm ein gönnerhaftes „Kennerpublikum“ zu unterhalten. Alte Italienerinnen aus dem nahen Triest, die seit Jahren hinter zu engen und auffälligen Kleidern und zu vielen Gläsern Weißwein vergessen haben, in Würde zu altern. Ihre Männer in Leinenhosen und Strohhüten, sie trinken Rotwein. Die vielen Touristen in ihrer uniformen Touristenkleidung, die von barocker Musik so viel Ahnung haben, wie ich vom Fischen. Die wenigen Einheimischen, niemand von meinen alten Freunden. Die meisten sind hier, damit sie nicht alleine daheim auf der Couch sitzen müssen. Ein paar schwerhörige Träumer wiegen sich in Nostalgie und den wenigen Tönen, die sie noch hören können. Das Tageslicht schwindet, die Scheinwerfer sind auf schummrig eingestellt. Besser so. Danke Luka, du bist der Einzige der hier ordentliche Arbeit macht und mein fahles Gesicht strahlend aussehen lassen kann. Auch wenn du mich verachtest, wenn auch nicht so sehr wie ich das tue. Während ich automatisch meine Geige stimme (übrigens eine echte Amati, von der ich mich auch nicht getrennt habe, als alle Pfandhäuser gleichzeitig ihre Eintreiber losschickten), liegt meine Aufmerksamkeit nicht auf meiner Band, nicht auf den erwartungsvollen (oder leeren) Blicken der Zuschauer und schon gar nicht auf meiner eigenen peinlichen Erscheinung. Ich lasse meine Blicke über den Platz schweifen, nehme seit langem wieder bewußt die Häuser wahr, die ihn umstehen. Die alten stolzen Patrizierhäuser. Manche noch recht gut in Schuß, aber je weiter sie vom Zentrum wegstehen und desto weniger Salzläden oder Restaurants in ihren Erdgeschoßen sind, desto mehr hat der Zahn der Zeit und das Salzwasser an ihnen genagt. An ihnen blättert an manchen, nicht gut einsehbaren Stellen, weit oben, der Putz ab und läßt das Ziegelmauerwerk durchscheinen. Die Häuser sind in milden mediterranen Pastellfarben gestrichen. Ein helles Blau, ein verwaschenes Mintgrün, weiches Orange, ansonsten herrschen Erdtöne vor. Die weißen Holzläden sind immer geschlossen, wegen der Hitze. Bei manchen, an den Häusern am Rand, fehlen ab und zu ein paar Sproßen. Mein Blick geht weiter, während ich mechanisch Andreja zunicke, damit sie mit leisem Klopfen auf Buchenholz die Band einzählt. Hinüber zu dem schmalen Ausschnitt der Marina, den man von der zusammengeschusterten Bühne aus sehen kann. Früher, als schmaler, von der Adriasonne gebräuntem Junge, habe ich immer davon geträumt, mir selber ein Boot zu zimmern und damit zuerst nach Italien und dann weiter immer weiter zu segeln. In die Sonne, in den Wind, ins Mittelmeer, weiter, an Gibraltar vorbei, ins Endlose. Doch ich war nie besonders wagemutig. Und irgendwas kam immer dazwischen. Die Eltern, das Ende der Schulferien. Die Zeit. Und heute versperren mir die Seelen tausender ertrunkener Flüchtlinge den Weg. Ein energisches Klopfen auf der Cajon und ein ärgerlicher Blick. Beinahe hätte ich meinen Einsatz verpasst. Als ob das irgendjemand aufgefallen wäre. Ja, wahrscheinlich nicht mal dir selbst, Guiseppe, alter Lehrmeister. Du warst immer frei in deinem Spiel, heute kopieren wir nur noch die Kopie. Endlose Wiederholungen vom vergilbten Papier. Virtuosität ist keine Blaupause, Varietät keine Übungssache. Gerade rechtzeitig setze ich den Bogen an und streiche zart über die Anfangstöne. Immer noch. Nach all den Jahren, diese Zärtlichkeit die mich umfängt, beim Spielen deiner Musik. Kontakt zu dir, über die Zeiten und über die Fähigkeiten hinweg. Leider eine Einbahnstraße. Ich lächle leicht vor mich hin, bei dem Gedanken, dass du den Begriff Einbahnstraße gar nicht kennst. Natürlich wird mein Lächeln vom Publikum falsch interpretiert, manche lächeln versonnen, wahrgenommen zurück. Mein Gesicht gefriert zur Maske und ich hoffe das sie nicht aussieht, wie es sich in meinem Inneren anfühlt. Eine Fratze von Hass und Verachtung. Auch oder vor allem auf mich. Monoton und routiniert wie all die Auftritte davor spiele ich das Programm runter. Gelangweilt. Nur noch. Die Abnutzung der Kunst hat nicht einmal ein bißchen Verzweiflung übrig gelassen. Danach. Endlose Verbeugungen und heuchlerischer Applaus. Wann dreht dieser Idiot Luka endlich das Licht ab. Geduldig, klar sie werden nach Stunden bezahlt, wartet die Horde von Helfern, bis sich auch der Letzte schwerfällig von seinem Plastikstuhl oder mitgebrachtem Klapphocker erhoben hat und umständlich den Platz verlassen hat. Wie jeden Abend denke ich, nie wieder, nicht noch einmal. Aber was soll ich machen, ich kann nichts anderes. Und in die Rentenkasse habe ich natürlich in den wenigen glorreichen Jahren nicht eingezahlt. Es wird auf Altersarmut hinaus laufen. Oder Suizid. Im Grunde genommen dasselbe. Die mickrige Gage, die ich für heute Abend bekommen habe, wird nicht lange halten. Vor allem weil ich es kaum erwarten kann, sie bei Žan durch zu trinken. Wie trocken sich ein Mund anfühlen kann. Früher waren die Abende nach einem Auftritt rauschend. Mit all den Freunden, aber die sind mittlerweile alle tot. Oder arbeiten für die Chinesen. Oder bemitleiden mich. Aufgeputscht, endorphinisiert fielen wir lachend bei Gina ein. Gina mit ihrem immer kroatisch rot gefärbtem kurzen Haar. Die Nacht gehörte uns. Und Piran ist wie gemacht für Nächte. Wie wir gefeiert haben. Wie oft sprangen oder fielen wir in das Hafenwasser. Es gab kein Morgen und er gehörte uns. Es soll sich nicht nach Aufschneiderei anhören, aber ich weiß es ehrlich nicht, um wie viele schöne Schultern ich an solchen Abenden meine Arme legte. In wie vielen Betten oder Bänken ich aufwachte. Den Geschmack von Begehrtheit, von Leidenschaft und dem Salz des Meeres auf dem Körper und den Lippen. Alles vorbei. Gegangen, wie du selbst, großer Meister. Wie alles gehen wird. Ich war nie besonders eitel und wer, und vor allem nicht ich, sollte sich mit dir messen. Dennoch. Im letzten Absatz deines Wikipediaeintrages, eine kleine Notiz….“Interpretierte Guiseppe Fekonja, der Wundergeiger aus Piran, wie kein anderer die Werke von Guiseppe Tartini.“
Nun gut. Für heute Abend werde ich wohl mit einem guten Essen und einer billigen Flasche Wein zufrieden sein müssen. Wie immer überfiel mich der Hunger, kaum dass die Anspannung losließ. Ich war schon lange nicht mehr nervös vor einem Auftritt, aber appetitlos. Vom vielen Kaffee, Alkohol und den Zigaretten. Ein Wunder, dass ich bei meinem Essgewohnheiten keine ernsthaften Magenprobleme habe. Ich kannte mich im Gewirr der Gassen, in denen sich jeder Fremde hoffnungslos verlief, aus. Seit Kindesbeinen an tobten wir Jungen hier durch. Jeder Winkel war mir vertraut. Ich wußte in welchem Durchgang Schwalben nisteten, wich schlafwandlerisch jeder vorspringende Ecke aus. Kannte jedes herab hängende Kabel in denen sich Touristen verfingen. Kurz, ich war ein Kind dieser Stadt. Und kannte die kürzesten Wege. Direkt zu dem kleinen namenlosen Fischrestaurant, das nie eine Ljubljaner finden würde. Dort wo sich die Katzen um die Abfälle balgten. Hier war der Service noch jugoslawisch, die Karte einfach, das Bier kalt und der Fisch frisch. Selbst gefangen von Jacob und es gab das was ihm am Morgen in die Netze ging. Ich hatte Glück. Die chinesischen Trawler hatten einige Riesengarnelen übersehen. Hübsch angerichtet, mit einigen Muscheln und den obligatorischen Pommes lagen sie nun auf meinem Teller. Zuerst schaufelte ich mir einige Pommes rein um den ersten Hunger zu stillen. Dann, langsamer, genussvoller die Garnelen, am Schluß die Muscheln. Wie konnten Menschen im Inland überleben, ohne diese Geschenke des Meeres. Wortlos wurde mir ein gekühlter Malvazija auf den Tisch gestellt. Zwar hatte ich Bier bestellt, aber Jacob vertrat die Meinung, das zu Fisch heimischer Weißwein getrunken wurde. Diskussionen darüber wurden nicht geführt. Nach dem Essen und dem Kaffee würde er mir selbstverständlich ein Bier dazu stellen. Einer dieser seltenen Momente in denen ich mich zufrieden zurück lehnen konnte. Manchmal reichten eben die kleinen Dinge. Eine Zigarette. Fisch. Satt und keine Gedanken an die Zukunft. Auch wenn der Moment schnell vorüber gehen würde. Ich hatte lange verlernt diese Augenblicke festzuhalten. Schon spannten sich meine Schultern wieder an, wurden die Züge um den Mund hart. Aus meinem Moment gerissen, nahm ich die Gespräche an den Nachbartischen wahr. Es drehte sich wie immer um das Gleiche. Im Golf von Triest war ein Wal gesichtet worden, so groß wie ein Haus, sagte der Eine. Ein weißer Hai, korrigierte der Andere. Und so viele Quallen waren noch in keinem Sommer davor angespült worden. Man brauchte eine halbe Stunde um Majas Kinder darunter auszugraben. Wahrscheinlich der Sturm letzte Nacht. Oder die Klimaerwärmung. Schon schweiften meine Gedanken wieder ab, meine Aufmerksamkeitsspanne war mittlerweile limitiert auf die Länge meiner Zigarette. Oder kürzer. Früher konnte ich stundenlang aufs Meer starren, beobachten wie der orangerote Ball der Sonne immer mehr Richtung Italien verschwand. Wie sich das Blau auflöste, in dunkelblau, in schwarzblau, bis nur noch schwarz übrig blieb und der Abendstern kam. Wie sich die Fische zu Schwärmen verbanden. Wie langsam Seeigel waren. Ab wann hatte das seine Wichtigkeit verloren. War dem Alltag gewichen.
Wo war Petur hin, der mit seinem schwindsüchtigen Körper und seinem roten zu großen Spastikerhelm unbeirrt wie ein Außerirdischer durch die Menge der tobenden, spielenden Kinder stakste, die auf dem Tartiniplatz nachts ihr Unwesen trieben. Während die Eltern Wein in den umliegenden Tavernen tranken und Austern schlürften, die zu dieser Zeit noch billiges Fischeressen waren. Niemand wußte was Petur suchte oder dachte, aber nie traf ihn ein Ball, nie wurde er von einem Kind auf dem Roller angefahren. Es war als ob er einen unsichtbaren Schutzschild um seinen schwachen Leib hatte. Und dann fanden ihn eines morgens seine Eltern in seinem Kinderbett. Er war während eines Anfalls an seiner Zunge erstickt. Oder Meta, laut, ein wenig ungelenk in den Bewegungen wegen ihrer Körperfülle. Wie ein Panzer in Miniaturausgabe, bahnte sie sich ihren Weg zum nächsten Eisstand. Auch mit immer zu wenig Dinaren in ihrer kleinen Kinderfaust bekam sie eine Kugel Eis von Janez, dem Eisverkäufer. Die Kinderwelt war zu dieser Zeit noch in Ordnung.
Dort, auf dem Platz, dem Mittelpunkt alles Kinderlebens von Piran sah ich Dunja zum ersten Mal. Sie stand da wie ein Wesen von außerhalb der Zeit. Ihr gepunktetes blaues Kleid flatterte um ihr Körperchen. Wie ich sie im Seewind schwanken sah, dachte ich unwillkürlich, dass sie wohl gleich ins Hafenbecken geweht werden würde. Und kaum gefunden, für immer aus meinem Leben versinken würde. Aber das Schicksal meinte es gut mit uns. Oder eben nicht. Es war ihr erster Sommer in Piran, mit ihren Eltern war sie hergezogen. Etwas unbeholfen und sich fremd fühlend, stand sie alleine inmitten herum rasender Kinder. Bellender Hunde. Luftblasen machendem fahrendem Volk. So verloren sollte sie immer wirken, auch wenn sie Manager herum kommandierte. Den Flugverkehr über Ljubljana regelte oder den Mond grün anstrich. Voll im Leben stand. Für mich war sofort klar, dass ich ohne sie mein Leben nicht leben konnte. Unsere unschuldigen Blicke trafen sich und sie blieben all die Jahre unschuldig. Auch wenn es hinter meinen Augen immer dunkler und schmutziger wurde. Wir wohnten im selben Viertel, in derselben Straße und teilten uns den selben Hinterhof. Wir waren an einander gewohnt. Frühstücken, aus der Haustür, „Hallo Dunja“. Nahe kamen wir uns nie. Lange nicht. Viel zu spät. Vielleicht hätte sie meinen Untergang damals noch aufhalten können. Ich nahm die gleichen Wege wie sie. Unauffällig in dieser kleinen Stadt. In der gleiche Schule waren wir sowieso. Als sie später im Fischrestaurant „Neptun“ kellnerte, saß ich stundenlang in der Taverne gegenüber, Geld für einen Kaffee. Ein gutmütiger Wirt als Verbündeter. Beobachtete ihre Bewegungen, ihr Lächeln, immer leicht wehmütig und zugleich so glücklich. Wie sie den Kindern Süßigkeiten zu steckte, wenn es Eltern nicht sahen. Den immer sanften Ton, selbst Andrej gegenüber.
Ich hatte kaum bemerkt, wie ich bezahlte. Aufgestanden war. Wie von alleine lenkten mich meine Schritte in die Gasse in dem das „Neptun“ damals war. Heute steht das Haus leer und verfällt. Pflanzen, die ich nicht kenne, wachsen aus der Ruine. Eigentlich komisch, auch in Piran kann man sich für zweihunderttausend keine 2 Zimmer Wohnung mehr leisten. Nebenan riecht es immer noch nach gehobeltem Holz und ätzendem Bootslack. Zumindest für die, die ihn damals gerochen haben. Nach all den Jahren. Obwohl Mario längst aufgehört hat in der schmalen Gasse seine Boote zu streichen, seine Werkstatt schon lange verschlossen ist. Weil er er tot ist. Und sein Sohn auch. Und alle.
Wie sehr ich dieses Piran meiner Kindheit vermisse. Als die Probleme noch daraus bestanden, ob man bei Ana im Laden ein Bonbon abstauben konnte, oder die Mutter Melone aufgeschnitten hatte, wenn man durstig vom Spielen nach Hause kam. Als einen der Alkohol noch nicht träge gemacht hatte. Als das Leben noch nichts von einem wollte. Oder die Gläubiger. Unachtsam stolperte ich gegen eine der Wasserflaschen aus Plastik, die überall auf dem Boden in ein jeder Gasse rumstehen. Kein Etikett mehr, mal halb voll, mal halb leer. Mal umgestoßen. Mal nicht. Manche an den wenigen Blumenkübeln, die ein wenig grün in den Halbschatten spenden. Manche neben Hauseingängen. Manche einfach so. Und immer wieder dieses hinterlistige Lächeln wenn die Touristen nach dem Sinn der Flaschen fragen. Bis heute weiß niemand außer uns warum die Flaschen dort stehen. Und Piran übergreifend sorgt die Unwissenheit der Anderen für gute Laune unter den Einwohnern. Job verloren, Beziehung gescheitert. Ein Blick auf die Flaschen und schon stiehlt sich ein Lächeln in die geplagten Gesichter. Wenn doch alles so einfach wäre, sich so einfach weglachen ließe. Und die Gedanken wieder bei Dunja. Bei dem Warum und dem Warum nicht.
Irgendwann hatte ich meinen ganzen Mut aufgebracht, einige Dinare zusammengekratzt und war im „Neptun“ essen gegangen. Für mehr wie eine Fischsuppe hatte es nicht gereicht. Ein kleines Glas Wein. Lang saß ich dort und wartet auf ihren Feierabend. Der nicht kam. Ich ging. An der Tür hörte ich Dunjas Stimme leise, wie immer leise, in meinem Rücken. „Holst du mich nachher ab?“ Es gelang mir nicht, selbstbewusst zu klingen. „Klar“. Mehr ein Husten, Röcheln. “Krieg ich dann noch einen Espresso.“ „Sicher. Den Besten.“ Ewig lungerte ich in dem Hauseingang gegenüber rum, dem mit dem Bogen aus Efeu und Oleander. Dann erloschen die Lichter im „Neptun“. Der Wirt schloß ab und ging. Dunja schloß wieder auf. Auf einer frischen weißen Tischdecke stand eine Tasse Espresso. Sie nickte in Richtung der Tasse und zog sich die Schürze aus. Unsicher trat ich an den Tisch, trank den Espresso. Kalt. Seit Stunden. Ein prüfender Blick. Ein unsichtbares Zucken um den Mund. Gleichzeitig lachten wir laut los. Sie leise. Sie nahm mich an die Hand, zog mich hinaus in die schwüle Nacht. Zur Promenade. Zum Leuchtturm. Damals noch alt und ohne Eintritt. Und dunkler als man von einem Leuchtsignal denken sollte. Ein paar Möwen beschwerten sich über den unerwarteten Besuch. Na und. An diesem Abend gab es nur einen Kuss, zaghaft von beiden. Aber das Gefühl reichte für viele Tage. Der Leuchtturm sollte unser geheimer Treffpunkt bleiben. Ich wohnte bei meinen Eltern. Ein Zimmer mit meinem Bruder. Sie mit zwei Schwestern. Wo sonst? Unsere Nähe lange genauso gewohnt wie immer. Und anders. Schöner. Und leichter. Und irgendwann schwerer. Und Alltag. Und zusammenwohnen. Und die Kinder. Und immer so weiter. Und kein Geld für die Stunden im Observatorium. Die Zeit die ich für mich allein übte, fehlte bei uns. Aber ich wollte Musik. Ich wollte dich. Dich, Tartini, dich Dunja. Ein Spagat der nicht gut gehen konnte. Ich war und bin es noch, besessen. Von deiner Genialität. Deinem Spiel. Nach wie vor kann ich es nicht erklären. Natürlich könnte ich all das anführen, was all die Theoretiker auch sagen. Kantabler Stil, die Bogenführung, die Differenztöne. Blablabla. Nachplappern von Wikipedia. Aber da gibt es etwas in deinem Spiel, viel tiefer, viel echter. Unglaublich zu deiner Zeit. Unglaublich zu unserer Zeit. Und während Vivaldi und die anderen Superstars alles überstrahlen, trittst du bescheiden in den Hintergrund. Weder dir noch mir war das Publikum besonders wichtig.
Und Dunja. Immer noch im „Neptun“. Älter, nicht mehr besessen. Von nichts. Nur Pflicht. Die Kinder. Die Miete. Lange in ihrer eigenen Wohnung. Zu der ich keinen Schlüssel mehr habe. Ab und zu Gespräche, irgendeine Organisation, irgendwas wegen Geld. Abgenutzt, das Leuchtfeuer erloschen. Im Malstrom von Zeit und Müssen und aber nicht Wollen.
Keine Ahnung wie lange ich in der vergessenen Gasse stand. Blick auf die Ruine, Blick in die Vergangenheit. Jetzt Gegenwart, alles nicht mehr so gut, alles nicht mehr so einfach. Weggehen konnte ich nicht richtig, aber ich wollte auch nicht mehr auf das Haus mit den Wunden schauen. Im Mauerwerk, im Herzen. Ich schaute daher an meiner Hose entlang zu meinen ausgetretenen Schuhen. Ich hatte mich nur in aller Eile umgezogen, die Schuhe waren immer noch die vom Auftritt. Passten nicht so recht zu meiner leichten hellen Hose. Vor allem langen Hose. Nur die Fremden tragen nachts kurze Hosen. Weil sie denken, hier an der Küste, mit Wind vom Meer her, gibt es keine Mücken. Aber die Piraner Mücken sind erstaunlich gut darin unter dem Wind zu fliegen. Oder mit ihm. Auf jeden Fall gibt es sie. Viele davon. Und immer hungrig. Aber ich bin diesmal nicht ihr Ziel. Und wo war mein Ziel? Meinen Zenit hatte ich längst überschritten. Besser in meinem Spiel wurde ich nicht mehr. Es tut mir leid, Guiseppe. Ich habe es nicht geschafft, deine Meisterschaft zu neuem Leben zu erwecken. Von dir bleibt nur die Statue aus angelaufener Bronze auf dem nach dir benannten Platz. Tauben auf deinem Kopf. Auf deinem energisch angehobenen Bogen. Direkt vor der Touristeninformation. Tausendfach fotografiert, ohne Wissen wer da auf dem großen Sockel steht. Also Altersheim, zur Last fallen, wahrscheinlich Dunja. Oder den Kindern. Oder dem Staat. Besser dem Staat. Wegen den fehlenden Emotionen. Sachlichkeit pflegt besser, als unwillige Kinder und überforderte Ex- Partnerinnen. Unwürdig wird es so oder so werden. Wahrscheinlich mit Windel und keine Selbstbestimmung mehr. Nein, Herr Fekonja. Für sie kein neues Glas Wein.
Also am besten vielleicht schwimmen gehen. Warum nicht? Nicht nachts? Der Gedanke sorgt für neue Energie. Sorgt dafür, dass ich in Bewegung komme und mich vom verblichenen Schild des „Neptun“ losreißen kann. Die Promenade ist ja nicht weit weg. Die niedrige Mauer vor dem Caffe Teater bestens dafür geeignet, die Kleider drauf zu legen. Und der kleine Steg aus Beton mit der Leiter, sehr gut um ins Wasser zu kommen. In meinem Alter geziemt sich kein kindlich fröhlicher Sprung mehr ins Hafenbecken. Und es gibt ja auch kein Grund für Fröhlichkeit. Also ruhiges unaufgeregtes Einsteigen, an der Leiter entlang. Ich will auch keine Aufmerksamkeit mehr. Dieser Moment soll mir alleine gehören. Sorgfältig falte ich mein Hemd, wahrscheinlich lag es so sorgfältig gefaltet noch nie irgendwo. In aller Ruhe streife ich meine Hose ab, die Socken. Ich habe keine Badehose an, aber das es meine Unterhose ist, sieht niemand bei den Lichtverhältnissen. Es ist die Zeit zwischen Neumond und noch nicht Vollmond. Hell genug um zu sehen. Dunkel genug um nicht erkannt zu werden. Aber hier im Teater kennt mich niemand. Es sind nur Touristen. Die die nicht mehr vom Sundowner aufgestanden sind, weil sie zu einsam sind. Oder zu betrunken. Weil sie einsam sind. Ein paar Familien, südländisch, mit großen Bäuchen und mit kleinen Kindern, die noch in ihren Rüschchenbadeanzügen und gestreiften Badehosen am Pier rumspringen dürfen. Nordeuropäische Kinder sind jetzt längst brav im Bett. Ein nächtlicher Schwimmer fällt hier nicht auf. Keine Sensation. Viele schwimmen um diese Zeit zwar nicht mehr. Weil sie zu bequem sind, zu betrunken. Heute schon schwimmen waren. Viele haben Angst im dunklen Wasser. Das habe ich nie verstanden. Die Angst vor dem Wasser. Vor dem was darin ist. Ob im Dunklen oder im Hellen. Haie, Muränen, Matrosengeister. Für sie spielt es keine Rolle, wenn sie jemanden in die Tiefe ziehen wollen, sie sehen nicht mit den Augen.
Der Mensch ist ein aquatisches Wesen, die ersten 9 Monate schwamm er im Bauch seiner Mutter. Was kann natürlicher sein, als sich im Wasser zu bewegen. Ureigenstes Element. So schwerelos und sorgenfrei. Sich treiben lassen, auf dem Rücken liegen, auf das Glitzern des Mondes in den Wellen und den Schein der Sterne im Himmel schauen. Befreit von den Lasten des Körpers. Der Seele. Der täglichen Mühsal. Mir hat schwimmen immer Ruhe und Frieden verschafft. Später war ich meist nach den Auftritten baden, die noch schlechter liefen, als die übrigen. Früher eigentlich in jeder freien Stunde. Tiefe kraftvolle Züge. Das Klacken der Steine wenn sie von der leichten Brandung aneinander gestoßen werden. Man kann es in solchen stillen Minuten hören, wenn die Motorboote längst im Hafen festgemacht haben. Wenn man ganz untergetaucht ist. Und nichts mehr da ist, was einen ablenkt. Selbst das Luftholen nicht. Oder das über Wasser bleiben. Einmal komme ich noch mal nach oben und stelle fest, dass ich schon ziemlich weit draußen bin. Zu weit. Aber ich habe ja auch nicht vor wieder zurück zu schwimmen.