Ich stürze mich in die Fluten des schwarzen Meeres. Das dunkelgrüne Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen und für einen kurzen Augenblick kann ich nichts sehen, da ich im Moment des Eintauchens meine Lider schließe um meine Augen zu schützen. Ähnlich wie es ein Hai tut wenn er das Element wechselt.
Denn schnellt ein Hai aus dem Wasser um seine Beute mit den drei Reihen rasiermesserscharfen Zähnen zu schnappen, schließt sich die Nickhaut über seinen Augen und er ist im Augenblick des Angriffs blind.
Das Wasser ist nicht besonders salzig und ich öffne meine Augen wieder. Meine Augen sind für ein Sehen oberhalb des Meeresspiegels konzipiert worden und selbst bei klarsten Wasserverhältnissen dürfte die Sicht nicht über fünf Meter liegen, weswegen ich unter Wasser nicht sehr weit sehen kann.
Das ist auch nicht nötig, da es nicht viel zu sehen gibt. Ich bin nun seit knapp einer Woche hier, schwimme täglich und habe noch keinen einzigen Fisch gesehen. Keine Qualle, keinen Seestern, schon gar keine Delphine. Und zum Glück auch keinen Hai.
Ich kraule mit ruhigen, gleichmäßigen, kraftvollen Bewegungen durch die still daliegende See.
Meine Atmung geht regelmäßig, mein Rhythmus ist gut. Der rechte Arm geht nach oben, durchbricht die fast glatte Wasseroberfläche. Die Handinnenfläche zeigt nach außen, während ich die Hand an meinem Kopf vorbei nach vorne werfe. Ohne einen Spritzer taucht meine rechte Hand ein, ich drehe sie so, dass die Handfläche nun nach unten zeigt und ziehe durch. Mein Kopf zeigt gerade nach vorne.
Die linke Hand durchbricht das Wasser, Handfläche nach außen, eintauchen, durchziehen. Mein Kopf zeigt gerade nach vorne. Rechter Arm. Linker Arm. Ich lege meinen Kopf zur rechten Seite, mein Mund ist außerhalb des Wassers. Ich atme tief und ruhig ein. Rechter Arm. Kopf gerade. So kann ich von Georgien bis nach Rumänien durchschwimmen. Beim kraulen werde ich kaum müde
und ich könnte weite Strecken ohne Unterbrechung zurücklegen.
Ich spüre die Blicke der hilflos am Strand rumplantschenden, schlechten Schwimmer.
Die Blicke der streithaften, georgischen Männer, die mich mustern. Sie blicken finster drein, regungslos, ausdrucklos, aber sie bewundern meinen Schwimmstil.
Ich bin ein eleganter Schwimmer. Ich bin ein ausdauernder Schwimmer.
Ich spüre die Blicke der schön-herben, georgischen Frauen, die ihre Männer mustern, die nicht so schwimmen können wie ich. Vorwurfsvoll, anklagend, herausfordernd. Sie verachten ihre Männer für dieses ruhmlose Eingeständnis ihrer Schwäche.
Ich könnte ewig so weiterschwimmen. Ich fühle mich gut. Es gefällt mir bewundert zu werden.
Doch nach 30 Metern drehe ich um. Das schwarze Meer ist weiter draußen dunkel und ich sehe darin nicht sehr weit.
Haie sehen hier, in ihrem angestammten Habitat, viel besser und viel weiter als ein Mensch. Sie spüren meinen ruhigen Herzschlag, die kräftigen Bewegungen. Hier schwimmt kein Aas, kein schwach zappelnder, von Krankheit zerfressener Fisch. Hier schwimmt Beute, für die es sich lohnt die Jagd zu beginnen.
Meine Erregung, verursacht durch diese plötzliche Erkenntnis, schlägt sich in erhöhter Synapsentätigkeit nieder. Elektrizität! Auch das können Haie spüren.
Haie nähern sich ihren Opfern von unten. So zeichnen sich die Opfer klar gegen die Helligkeit der oberen Wasserschichten ab, während sie selbst bis zum letzten Moment unsichtbar bleiben.
Ich versuche meine Panik zu unterdrücken, um den Hai nicht auf mich aufmerksam zu machen. Es gibt außer mir noch andere Schwimmer. Wenn ich nur ruhig bleibe…
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich nach unten.
Da. Ein Schatten. Und schon spüre ich eine Berührung an meinem Bauch. Ich erwarte den stechenden Schmerz von hunderten von gezackten Zähnen, die sich in meine Seite fressen. Ich schlage wie wild um mich. Als ob das etwas nützen würde. Nun spüre ich die Berührung an meiner gesamten Körperunterseite. Am Bauch, an den Beinen, den Armen. Was für ein Riese muß das sein, der sich da auf mich stürzt?
Meine hektischen, hilflosen Bewegungen reißen Kiesel und schwarzen Sand hoch und ich bemerke, dass ich schon halb auf dem Strand liege und immer noch verzweifelt um mich schlage und hohe
Schreie ausstoße. Hochfrequente Töne vertreiben Haie, weil sie sie nicht mögen, habe ich gehört.
Vielleicht kann ich es doch noch schaffen. Ich spüre Widerstand unter meinen Füßen, nehme all meine Kraft zusammen und stoße mich ab. Es kann nicht sehr geschmeidig ausgesehen haben, aber ich liege jetzt ganz auf dem Kiesstrand. Nur kurz, dann mobilisiere ich die letzten Reserven und krabbele den Strand hinauf. Ich kenne die Bilder von Haien, die sich aufs Land wuchten und Robben ins Meer ziehen, die sich in Sicherheit wiegten.
Erst als ich mich weit genug weg vom Ufer wähne, lasse ich mich erschöpft fallen.
Warum hat keiner versucht mir zu helfen? Was ist mit der vielgerühmten Hilfsbereitschaft, der Kampfbereitschaft der Söhne Sakartwelos?
Ich drehe mich auf den Rücken, will mit meiner Anklage beginnen, doch ich spüre die Blicke der Männer, die mich mustern. Sie blicken finster drein, regungslos, ausdrucklos. Aber sie verachten mich für meine Schwäche. Die Blicke der Frauen, die ihre Männer mustern, die nicht so feige sind wie ich es bin. Beifällig, aufmunternd, stolz. Sie bewundern ihre Männer für ihre männliche Haltung.
Von einem Hai ist weit und breit keine Spur.
Vor lauter Scham möchte ich am liebsten im kiesigen Boden der Schwarzmeerküste versinken.
Wie konnte es zu dieser peinlichen, kaum ertragbaren Situation kommen?
Ich raffe meine Kleidung zusammen und versuche so unbeteiligt wie möglich diesen Ort zu verlassen. Meine Hände zittern noch immer stark und trotz des subtropischen Klimas friere ich.
Am anderen Ende des Strandes ist eine schlecht besuchte Strandbar, die ich ansteuere. In der Hoffnung, das sich mein unrühmlicher Auftritt noch nicht bis hierher herum gesprochen hat. Der Strandabschnitt an diesem Teil des schwarzen Meeres ist nicht sehr groß.
Ich bestelle mir einen türkischen Kaffee und einen doppelten Tschatscha, ein grappaähnliches Getränk, aber hochprozentiger. Während ich warte bis die lahmarschige, unfreundliche Bedienung meine Getränke bringt, schaue ich aufs Meer. Gestern Nacht tobte hier noch ein Unwetter übers Wasser. Der Wind peitschte die schwarzen Wellen vor sich her und unzählige Blitze grillten alles was sich knapp unter oder über der Wasseroberfläche befand. Ein schaurig schönes Schauspiel für all diejenigen, die auf der Regengeschützten Veranda sitzen konnten, mit einem Glas trockenem Saperavi in der Hand.
Die drei Fischer, von denen immer noch jede Spur fehlt, fanden es wahrscheinlich nur schaurig.
Doch das war gestern.
Heute liegt die See fast glatt vor mir. Nur kleine Wellen kräuseln das Wasser. Die Sonne brennt heiß und verdampft die gestrigen Niederschläge zu kaum atembarer Luft. Ideales Schwimmwetter.
Keine dreieckige Rückenflosse pflügt das ruhige, friedliche Wasser. Der Jäger lauert unten, in dunklen, undurchdringlichen Tiefen.
Hungrig und blutgeil.
Mein Tschatscha und der Kaffee kommen. Der Kaffee schmeckt schlecht, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal aufgebrüht, und er ist lauwarm. Eine Pfütze schwappt in der Untertasse hin und her.
Das Glitzern der Sonne auf dem Wasser und der Alkohol lassen mich ruhiger werden. Im Hintergrund läuft zu laute, zweitklassige Sambamusik, die den ängstlichen Schlag meines feigen Herzens übertönt. Mein Herz nimmt den Rhythmus dankend an und mein Gemüt hellt sich wieder etwas auf, passt sich dem Wetter draußen an. Mein Wille kehrt zurück. Ich schöpfe neuen Mut.
Es gibt weltweit zehn verbürgte Haiangriffe pro Jahr und die meisten davon sind bedauerliche Verwechslungen. Ein Surfer sieht von unten betrachtet nun mal nach einer Robbe aus. Lächerlich das gerade ich der elfte verbürgte Haiangriff werden sollte. Ich trinke aus und bezahle.
Ich bin ein guter, ich bin ein eleganter Schwimmer.
Für Georgier ist diese lauwarme Brühe, die sie das schwaze Meer nennen, eiskalt.
Amüsiert und ein wenig überheblich lächle ich vor mich hin, als ich mich in die Fluten stürze.
Sicherheitshalber bleibe ich nah am Ufer und versuche beim Schwimmen nicht wie eine Robbe aus zu sehen.