Wie jeder der Unsterblichen kam auch ich an den Punkt, an dem ich dachte verrückt zu werden. Doch hatte man die Zeit der Zweifel und des Grübelns über die Nichtvergänglichkeit erst überwunden, was zugegebenermaßen sehr lange sein konnte, hatte man die gesamte restliche Unendlichkeit zur Verfügung, um sich den Dingen hin zu geben, die man schon immer mal machen wollte. Ich kenne eine Unsterbliche, die ihr ganzes langes Leben damit zubringt dicke Wollsocken in nunmehr äußerster Perfektion zu stricken. Sie sind, wie ich wahrscheinlich nicht weiter erwähnen muß, äußerst bequem zu tragen und ein gefragter Artikel während der Winterzeit. Doch zurück zu meinen Selbstzweifeln und dem Brüten über das Sein, Nichtsein im Allgemeinen und das ewige Leben im Speziellen. Es fing mit einem leisen unbehaglichen Gefühl an. Natürlich wußte ich da schon längst, dass ich ein Unsterblicher war. Im Übrigen heißt unsterblich sein nicht, dass wir nicht sterben können. Aber es bedarf dazu einiger spezieller Vorraussetzungen und der Zustimmung des Ältestenrates. Schließlich sind wir nicht alle gleich alt und manche glauben tatsächlich nur weil sie das eine oder andere Jahrhundert älter sind, über einen höheren Erfahrungsschatz zu verfügen. Und eine Lappalie wie beginnender Wahnsinn wegen dem ewigen Nachdenken über seinen eigenen Lebenszustand war für den Ältestenrat sicherlich kein Grund einen in den ewigen Tod zu verabschieden. Also litt ich, nach mehrmaligem, negativ beschiedenem Todseinvorsprechen (übrigens ein äußerst peinliches Verfahren, bei dem die Ältesten die Augen rollen, mißbilligend mit der Zunge schnalzen oder einfach abwesend in ihrem Tee rühren) lange vor mich hin und glaubte dem Irrsinn anheim zu fallen. Zuerst versuchte ich den Zustand mit Meditation und Yoga zu vereinfachen. Dann mit Alkohol- und Drogenmissbrauch zu verharmlosen, um schließlich bei (wie hieß der vollgekokste Typ vor mir gleich noch, richtig, Dr.Siegmund Freud ), auf der Couch zu liegen und mir selbst beim jammern zu zuhören. Der Mann, der überdreht am Fenster auf- und abmarschierte war dazu nämlich nicht in der Lage.
Naja, am Ende stellte ich fest, dass, je weniger man gegen diesen unangenehmen Zustand ankämpfte, man desto schneller damit durch war und sich aufs Wesentlich konzentrieren konnte. Das war ja allerdings das Problem, auf das einen niemand so richtig vorbereitet hatte. Was war denn das Wesentliche?
Ich ging zu meinem Begleiter. So heißt die Person, die einem mal mehr, mal weniger schonend beibringt, dass die Eltern quasi nur geliehen sind und man schon jeher zu den Unsterblichen gehört, herzlich willkommen, und nun aber auch wirklich alt genug ist, das zu verstehen und bitte auch zu akzeptieren.
Mein Begleiter heißt Anselm, einfach nur Anselm, wie er selbst immer betont und dabei tapfer, aber etwas gekünstelt lächelt, da er im hohen Mittelalter das Licht der Welt erblickte und Anselm damals ein äußerst schicker Name war. Wie gesagt. Damals. Ich glaube heute leidet er etwas darunter ohne es zuzugeben.
Anselms Antwort war gewohnt unbefriedigend. Es sei halt für jeden etwas Anderes das Wichtigste und man hätte ja genügend Zeit selbst darauf zu kommen, was es war. Zudem es sich von Jahrhundert zu Jahrhundert schon mal ändern konnte. Er selbst beschäftige sich momentan sehr intensiv mit Seidenmalerei und, wohl weil er meinen abschätzenden Blick bemerkt hatte, da gäbe es gar nichts daran auszusetzen und es sei keineswegs so unmännlich wie mir das eventuell vorkommen würde. Und er müßte dann jetzt auch los, da der Händler seines Vertrauens neue Farbe aus Sri Lanka reinbekommen hätte und er die unbedingt auf Lichtechtheit überprüfen wolle. Kurzzeitig spielte ich mit dem Gedanken mich ebenfalls in der Seidenmalerei zu probieren, verwarf das Vorhaben aber sofort wieder, da es sich schließlich um Anselms und nicht um meine wichtigste Sache handelte.
Ich experimentierte eine Weile herum, konnte aber nichts finden, für was ich mich so richtig leidenschaftlich begeistern konnte. Weder mineralische Prozesse bei der Bildung von Tropfsteinen (außerdem war dieses Feld bereits mit Herbert belegt, der seit circa 300 Jahren in einer Höhle in Slowenien hockte und dem Zusammenwachsen von Stalagmiten und Stalaktiten zusah), noch Astrologie oder Maschinenbau konnten mich dauerhaft fesseln. So beschloß ich einfach eine Weile herumzureisen, in der Hoffnung meiner Bestimmung ein wenig näher zu kommen. Den ganzen südostasiatischen Raum ließ ich bei meiner Reiseplanung außen vor, da ich der Ansicht war, dass sich dort bereits genügend Leute in Ashrams, buddhistischen Klöstern und an traumhaft schönen Stränden tummelten. Ich konzentrierte mich auf weniger zugängliche Gegenden, denn dort würde es wohl ruhig genug sein, dass man seine eigenen Gedanken hören konnte. Man muß sich allerdings wundern, wo man überall von Menschen getroffen wird. Dass ich im Innersten der Namibwüste, früher oder später auf ein gut ausgerüstetes Extremwüstendurchquerungspärchen aus den Staaten treffen würde, hätte ich mir denken können. Dass aber sogar an Plätzen die nicht einmal Wikipedia kennt immer schon irgendein Individualtourist vor mir da war, ging mir dann irgendwann doch auf die Nerven. Ich veränderte meine Strategie und suchte nur noch völlig unattraktive Länder auf. Transnistrien zum Beispiel. Dort war ich aber ständig damit beschäftigt, nicht andauernd erschossen zu werden (sie glauben nicht wie anstrengend es sein kann, seinen Mörder in der Gewissheit zu lassen, dass man wirklich tot ist) oder mich mit Hilfe einiger anderer Unsterblicher, die über die Jahre eine gewisse Machtposition erreicht hatten, wieder aus Gefängnissen freizukaufen, in die ich unverschuldet gesteckt wurde. Kein Wunder das Transnistrien von keinem anderen Staat der Welt anerkannt ist. Letztendlich fand ich doch noch einen geeigneten Ort, an dem ich ein wenig zum nachdenken kam. Das hätte ich mir aber auch von Anfang an denken können, dass niemand nach Sachsen-Anhalt wollte. Es war nicht weiter schwierig eine heruntergekommene Wohnung in einem leerstehenden Haus in einem vergessenen Dorf anzumieten, nachdem ich den Vermieter davon überzeugt hatte, dass sich mein deutsch nur deswegen so ungewohnt anhörte, weil ich aus Westdeutschland käme, und nein, ich kein Ausländer wäre.
Natürlich komme ich nicht aus Deutschland, weder aus West noch Ost, aber Sprachen lernen fällt uns allgemein nicht sehr schwer und mit nur ein wenig Mühe sind wir praktisch nach, in unseren Massstäben gemessen unbedeutenden Zeitspannen überall Native Speaker. Bis auf Sabine, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sich so unverständlich wie möglich auszudrücken, was den Nachteil mit sich bringt, dass sich niemand mehr mit ihr unterhalten möchte und sie in letzter Zeit darüber nachdenkt, sich ein anderes Interessenfeld zu suchen, um sich nicht so einsam zu fühlen. So saß ich also in meinem unterdurchschnittlich eingerichteten Zimmer (es wurde möbliert vermietet) und mußte feststellen, dass ich aber auch rein gar nichts mit mir anfangen konnte. Klar. Ich sagte mir, dass ich ja nicht einfach nur eine Weile an die vergilbte Tapete zu starren brauchte, um dann, schwuppdiewupps, eine Siddarthaähnliche Eingebung zu erhalten. Peter, wie wir ihn nennen, saß schließlich auch ganz schön lange unter diesem Baum. Ich versuchte die Wand aus verschiedenen Blickwinkeln anzustarren, doch das Ergebnis blieb immer dasselbe. Dann ging ich dazu über, ausgedehnte Spaziergänge über die brachliegenden Felder der Umgebung zu machen. Nichts. Dann fing ich an die herunter fallenden Äpfel zu zählen und in ihrer Größe und Form zu vergleichen. Wieder nichts.
Als selbst der resignierteste Dorfbewohner auf mich aufmerksam geworden war, gestand ich mir ein, das ich Input benötigte, um an irgend etwas anderes als an meine Misere zu denken und kündigte mein Zimmer.
Nach dem ich nun einige Erfahrungen auf dem Land hatte sammeln können, entschloss ich mich in eine größere Stadt zu ziehen. New York vielleicht. Oder Kioto. Schließlich fiel meine Wahl auf Istanbul. Eine pulsierende Stadt voller neuer Eindrücke und beeindruckender Bauten. Leider auch eine teure Stadt.
Finanziell haben wir allerdings keine Schwierigkeiten, da es einen Hilfsfond gibt, der diejenigen Unsterblichen unterstützt, die momentan über kein Geld verfügen. Aber diese Zahlungen erfolgen natürlich auch nicht ewig, hahaha, ewig. Äehm. Also. Ich irrte durch die verwinkelten Gassen der Altstadt als es passierte. Ich verliebte mich. Und zwar in alles zusammen und gleichzeitig. Die Situation war folgende. Ich lief auf der Suche nach einem Herrenschneider, der mir empfohlen worden war, von einer Gasse in die nächste, da ich mich bereits hoffnungslos verlaufen hatte. Mir blieb nichts anderes übrig als die nächstbeste Person zu fragen, die mir begegnete, ob sie mir aus diesem Gewirr ohne Straßenschilder heraushelfen konnte. Gar nicht so einfach, denn um die Mittagszeit mit ihren trockenen 35 Grad im Schatten waren kaum Leute unterwegs. Die Person die mich schließlich rettete war Myriam.
Modern gekleidet, zeitgenössische Frisur, schlank und um mindestens einen Kopf kleiner, als ich, was allerdings nicht schwer ist bei meinen stattlichen 1,87m, hatte ich sie bereits von Weitem erblickt und lief zielstrebig auf sie zu. Dies schien sie merkwürdiger Weise in keinster Form zu verunsichern. Im Gegenteil erwiderte sie meinen Blick sehr geradlinig aus ihren blauen Augen und hielt ihrerseits auf mich zu. Was wiederum mich verunsicherte. Und im selben Moment fragte ich mich noch, warum mich das verunsicherte, da mir als Unsterblicher ja nichts passieren kann. Da hatte ich mich aber getäuscht. Mir passierte es nämlich, dass ich kein Wort heraus brachte, als wir voreinander standen. Ich war auf einen Schlag verliebt. Bisher hatte ich mich um die Liebe wenig geschert. Darum wollte ich mich erst kümmern wenn ich den Sinn meines Lebens gefunden hatte. Tja so einfach ist es. Die Liebe ist der eigentlich Grund unserer Existenz.